Wie sieht der positive und negative Wertbeitrag eines Unternehmens aus zu Themen wie Klima, Biodiversität, Weiterbildung, Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen?

Christian ist Vice President der BASF und als CEO in die Value Balancing Alliance entsandt. Die Allianz konzentriert sich auf die Entwicklung einer standardisierten Methodologie zur Rechnungslegung zum Schutz und zur Schaffung langfristiger Unternehmenswerte. Diese soll Entscheidungsträger in die Lage versetzen, den gesamten Wertbeitrag ihres Unternehmens sowohl für die Gesellschaft als auch für das Unternehmen zu optimieren.

dfv EFG: Der Value Balancing Alliance (VBA) geht es um den »wahren« Wert von Unternehmen. Was verstehen Sie darunter?

Christian Heller: Der Erdüberlastungstag – der Tag an dem der Mensch auf „Kredit“ der natürlichen Ressourcen lebt – fiel 1970 auf den 29. Dezember; 2022 auf den 28. Juli. Heute leben wir zwar in einer Zeit fallender sozialer Ungleichheit – die Unterschiede sind nach Gini-Index aber noch immer immens. Die große Herausforderung unserer Zeit ist, auch in Zukunft ohne Beeinträchtigung der Möglichkeiten von künftigen Generationen unsere Lebensbedürfnisse zu befriedigen.

Ohne eine tiefgreifende Transformation der Wirtschaft, und damit der Geschäftsmodelle von Unternehmen, wird dieses große Ziel nicht erreichbar sein. In Kombination mit Digitalisierung ist Nachhaltigkeit das zentrale Wort unserer Zeit – also wie wir mit weniger Ressourcen die steigenden Bedürfnisse von immer mehr Menschen erfüllen können. Dies ist eine unglaubliche Chance für innovative Unternehmen – das Geschäftsfeld der Zukunft!

Hierfür müssen wir aber den der Marktwirtschaft inhärenten Begriff des Wachstums bzw. von Wertschaffung von Unternehmen weiterentwickeln. Es geht weniger um quantitatives als vielmehr um qualitatives Wachstum, nicht um die rein finanzielle, sondern die Gesamtleistung eines Unternehmen – wenn sie so wollen um Finanz-, Natur-, Human-, und Sozialkapital entlang der gesamten Wertschöpfungskette eines Unternehmens.

Konkret geht es darum, den Wert eines Unternehmens zweifach neu zu beleuchten: Einmal den Wert des Unternehmens selbst, den Enterprise Value, umfassender zu bewerten. Zum zweiten die Wirkung unternehmerischen Handelns, dessen Impact, auf Gesellschaft und Natur in die Gleichung mit aufzunehmen. Also die rein betriebswirtschaftlich-finanzielle Komponente zu erweitern um Umwelt- sozial- und Governance-Aspekte, auch ESG genannt, sowie um eine volkswirtschaftliche Komponente.

Um es konkreter zu machen: Wie sieht der positive und negative Wertbeitrag eines Unternehmens aus zu Themen wie Klima, Biodiversität, Weiterbildung, Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen? Und wie kann ich diesen Beitrag bewerten – im besten Fall in der Sprache der Wirtschaft also in Eurowerten?

 

dfv EFG: Die VBA steht für „eine Marktwirtschaft im Dienste von Menschen und Umwelt“. Wie wollen Sie diese erreichen?

Christian Heller: Die Value Balancing Alliance (VBA) e.V., ist ein 2019 gegründeter, gemeinnütziger Verein. Gegründet von großen, internationalen Unternehmen mit dem Ziel, dass Unternehmen erstmalig ihren positiven und negativen Wertbeitrag umfassend und vergleichbar berechnen, danach das Geschäft steuern und ihre entsprechende Leistungen offenlegen. Hierfür entwickeln wir gemeinsam mit der International Foundation for Valuing Impacts (IFVI) aus den USA und vielen weiteren, internationalen Partnern eine Methodologie, die auf zwei Säulen steht und die sogenannte Doppelte Materialität widerspiegelt. Zum einen eine standardisierte Messung des Beitrages von Unternehmen beziehungsweise der Wirkung eines Geschäftsmodell auf Gesellschaft und Umwelt: Der Standard für das Impact Measurement and Valuation (IMV) – also die volkswirtschaftliche Betrachtung. Und zum anderen durch die Ausweitung der Bewertung des Enterprise Value über die klassischen Finanzkennzahlen hinaus. Die VBA stellt damit eine Methode zur Verfügung, die Unternehmen befähigt, Nachhaltigkeit direkt in die DNA und Blutbahnen der Unternehmen zu überführen: Die Rechnungslegung.

Wir erschaffen eine Methodologie, die über den Impact auf die Gesellschaft direkt darauf abzielt, die positiven wie negativen Wirkungen eines Geschäftsmodell auf das soziale Wohl zu erfassen, zu quantifizieren und monetär zu bewerten – Kompass ist dabei das Wohlergehen des Menschen. Ökologische und soziale Aspekte können damit in die Entscheidungsfindung und Steuerung der Unternehmen – im Dienste von Menschen und Umwelt – integriert werden.

Wichtig ist dabei, dass unsere Methode in den Mitgliedsunternehmen der VBA auf Praxisrelevanz und Umsetzbarkeit jährlich aufs Neue getestet wird. Schlussendlich wollen wir erreichen, dass das, was wir entwickeln und testen, von einem globalem Standardsetzer und damit durch Regulierung aufgegriffen wird. Dafür befinden wir uns in einem regen Austausch mit dem IFRS International Sustainability Standards Board, der Global Reporting Initiative oder den EU-Institutionen.

 

dfv EFG: Umweltverbände warfen Ihnen bzw. der VBA vergangenes Jahr vor, einen ungeeigneten Ansatz für die Erfassung der Folgen von Geschäftsaktivitäten zu verfolgen. Wie gehen Sie mit dieser Kritik um?

Christian Heller: Lassen Sie mich vorwegnehmen, dass wir mit der Erweiterung der Rechnungslegung noch relativ am Anfang stehen – und das sagen wir auch immer! Ein sachlicher Zugang, das heißt konstruktive Kritik nehmen wir gerne auf und diese dient auch der stetigen Weiterentwicklung unserer Methode. Als VBA wurde uns unter anderem vorgeworfen, wir addierten positive und negative Aspekte miteinander auf bzw. würden das eine mit dem anderen kompensieren. Das ist leider schlichtweg falsch. Vielmehr wollen wir zu quantitativen Größen wie CO2-Äquivalenten für jeden Indikator die passenden monetären Größen ermitteln und sie damit in die Sprache und Steuerung der Unternehmen integrieren. Wir möchten die Wirkungen eines Geschäftsmodells, die immer Kontext abhängig sind, verständlicher machen  – beispielsweise macht es einen wesentlichen Unterschied, ob die Luftemissionen in einer Stadt auf dem unbesiedelten Land verursachen. Diese Gedanken der Monetarisierung werden von vielen Stakeholdern wie dem Umweltbundesamt unterstützt. Auch der Anspruch unserer aktuellen Koalition, ESG-Aspekte in die Bilanzen der Unternehmen zu integrieren, ist ohne Monetarisierung nicht denkbar.  Dafür suchen und entwickeln wir kontinuierlich Methoden.

Nicht immer geht die Entwicklung von Methoden so schnell voran, wie wir das gerne hätten und hängt mitunter von der Entwicklung anderer verschiedene Faktoren ab – in unserem Umfeld die Entwicklungen im Bereich der Berichterstattung zu Nachhaltigkeit, ob auf der internationalen Ebene oder innerhalb der EU. Entscheidend ist, dass wir eine robuste Methode erarbeiten, die in den Unternehmen umgesetzt werden kann und die dann auch im Dienste von Mensch und Umwelt stehen kann.

 

dfv EFG: Kommen wir weg von der VBA und hin zu Ihrer zweiten Position: Sie sind stellvertretender Vorsitzender des Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung. Dieser hat im März diesen Jahres ein Papier zu den Herausforderung der Umsetzung der EU-Taxonomie herausgebracht. Wo sehen Sie hier die größten Umsetzungsschwierigkeiten?

Christian Heller: Ich war ja Mitglied der ersten Platform Sustainable Finance, die die Europäische Kommission zur Taxonomieverordnung berät. Mir sind also viele Positionen direkt aus den Diskussionen bekannt. Ich kann sagen, dass das Papier des Sustainable Finance Beirats eines der ausgewogenstes, inhaltlich hochwertigsten und lösungsorientiertesten, die ich bislang gesehen habe.

Für den Beirat sind wir ad personam gewählt – sollen also auch unsere eigene Position deutlich machen und diese aktiv einbringen. Insgesamt stehe ich voll hinter der Einschätzung des Beirats! Transparenz zur Leistung von Unternehmen ist Voraussetzung, um die Transformation finanzieren zu können. Auch die drei beschriebenen Kernherausforderungen zur Taxonomie trage ich mit: Unsaubere Definitionen und Inkonsistenzen im Gesetzestext, die praktische Umsetzbarkeit in Unternehmen inklusive der Verfügbarkeit von Daten und einer Clearing-Stelle in der EU sowie die Herausforderung, dass der Zeitraum von Regelung bis zur Umsetzung sehr sehr eng ist.

Ingesamt muss man sagen, hat die Taxonomie noch nicht zur erhofften Anwendung und damit Neuallokation von Kapital geführt. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die Taxonomie als Werkzeug Relevanz erzeugt oder andere Ansätze wie die Standards zur Nachhaltigkeitsberichterstattung und deren Einbettung in Transformationspfade – auch hier sind wir alle noch im Suchungsprozess.

 

dfv EFG: Was raten Sie Unternehmen (der Finanzbranche), um mit diesen Schwierigkeiten umzugehen?

Christian Heller: Ich bin ja in der Realwirtschaft groß geworden und schaue damit ein bisschen von außen auf den Finanzmarkt. Ich sehe ihn immer als den großen Enabler! Investoren, Banken, Versicherungen, Ratingagenturen usw. haben unglaubliche Möglichkeiten, auf das Verhalten von Unternehmen einzuwirken sei es durch Fragen bei Hauptversammlungen, Vergabe von Krediten, Bonds usw.

Ich sehe aber auch absolut eine strukturelle Schwierigkeit: Welche glaubhaften und vergleichbaren Informationen gibt es im Markt? Was ist nun ein wirklich nachhaltiges Geschäftsmodell oder Investition? Erhalte ich einen entsprechenden finanziellen Return on Invest – noch leben wir ja in einer Marktwirtschaft…Ich kann Finanzunternehmen aktuell anraten, sich die eigene Expertise aufzubauen, die Informationen von Unternehmen richtig zu bewerten. Zudem vermisse ich den strukturellen Dialog zwischen Unternehmen als Bereitsteller und Finanzhäusern als Nutzer der Daten sowie der Regulierer. Noch ist relativ unklar, welche Daten wirklich zu generieren und wie sie zu veröffentlichen sind, so dass sie wirklich jedem einen Mehrwert liefern. Es geht also um eine viel aktivere Gestaltung und ein stärkeres Engagement in Multistakeholder-Netzwerken.

 

dfv EFG: Welche Auswirkungen hat das auf die Realwirtschaft?

Christian Heller: Trotz aller Anstrengungen zur globalen Konsolidierung der Berichterstattung zu Nachhaltigkeit stehen wir noch immer einer hohen Fragmentierung gegenüber. Und das nicht nur bei den Standards und Gesetzen: Finanzmarkteure fordern von Unternehmen je spezifische Daten an, um ihre Systeme zu bedienen; Unternehmen befragen mit unterschiedlichen Fragebögen ihre Zuliefererketten, um ihre Informationsbedürfnisse zu befriedigen – teilweise gesetzlich gefordert, teilweise aus eigenem Antrieb. Diese hohe Komplexität führt dazu, dass Unternehmen immer mehr Ressourcen auf Berichterstattung verwenden und Nachhaltigkeit mehr und mehr als Compliance-Thema wahrgenommen wird. Gerade in Europa müssen wir feststellen, dass die zunehmende Berichterstattung – bei aller Notwendigkeit zur Transparenz – zu zu viel Bürokratie führt und auch teilweise die Veröffentlichung wettbewerbssensitiver Informationen verlangt. Die hat strukturelle Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa.

Berichts- und Offenlegungsanforderungen an die Realwirtschaft sollten sich immer an der übergeordneten Frage orientieren, welche Informationen wirklich für eine fundierte und gut informierte Entscheidung benötigt werden – im Unternehmen, im Finanzmarkt, der Politik und der Zivilgesellschaft. Dieser Dialog wird unzureichend geführt!

dfv EFG: Welche konkrete Entwicklung/Entscheidung wünschen Sie sich für die (grüne) Finanzbranche bis zum Auslaufen der Klimaziele 2025 des Pariser Abkommens?

Christian Heller: Mit Verlaub – allein die Frage nach den Klimazielen 2025 wirft ein grundlegendes Problem auf: Die Verengung der Debatte auf Klima springt viel zu kurz. Wenn sie so wollen, durchlaufen wir eine multiple Zeitenwende! Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt, soziale Ungleichheit, Pandemien, neue Kriege, sich verändernde Wertesysteme – es geht um die gesamte Transformation unserer Gesellschaft! Die Wirtschaft ist nur ein Teil davon; und Klima nur ein Aspekt! Ja, das ist komplex, das ist herausfordernd! Aber anders wird es nicht gehen! Ich sage immer, Nachhaltigkeit ist der Versuch, die Spezies Mensch ein bisschen länger auf diesem Planeten zu halten – um nichts weniger geht es!

Hierfür bedarf es Lösungen, die sich vom etabliertem Silo-Denken lösen. Wir müssen Dinge zusammen denken, die komplexen Konsequenzen unserer Entscheidungen verstehen; neben die reine Selbstorientierung den Blick auf das Wohl der Weltgesellschaft lenken.

Deswegen ist auch der Gedanke der doppelten Materialität so notwendig. Und als VBA entwickeln und testen wir zusammen mit unseren Partnern einen Baustein – die Erweiterung der Rechnungslegung – um diese Transformation mit marktwirtschaftlichen Mitteln zu stemmen.